Demokratie in der Krise
Darf eine demokratische Regierung ein ganzes Land und dessen Wirtschaft stilllegen? Zudem noch die Bewegungsfreiheit seiner Bürger bis zum totalen Kontaktverbot einschränken? Darf diese Staatsgewalt mit Hilfe von Notstandsgesetzen die Exekutive auf einzelne Personen übertragen und dessen Bürgern einige ihrer wichtigsten Grundrechte nehmen?
Je länger dieser Quarantäne-Zustand andauern wird, desto größer die Gefahr für unsere Rechte. Wir leben zwar in Deutschland, wo wir durch unsere Verfassung weitestgehend geschützt sind und den Politikern einen Verfassungsmissbrauch, der über das derzeitige Verbot, sich auf öffentlichen Plätzen zu versammeln hinausgeht, nicht zutrauen. Doch in vielen anderen Ländern, wie unter anderem Ungarn und Polen ist es schon länger um die Demokratie schlecht bestellt, weswegen die Coronakrise den dortigen Machthabern gerade recht kommt. Sei es ein polnischer Jarosław Kaczyński (Vorsitzender der PSI Partei), der geschickt die Krise nutzt, um dem eigenen Präsidentschaftskandidaten im Mai den Sieg zu sichern und sich dadurch selbst noch mehr Macht zu verleihen, oder ein ungarischer Victor Orbán, der ohne zeitliches Limit mehr Macht bekam, das Parlament in Zwangspause schickte, und Wahlen und Volksabstimmungen aussetzte. All diese autoritären Politiker hatten noch nie zuvor eine solche Chance, ihre noch existierenden Demokratien weiter zu demontieren, bzw. wenn, dann nur in einem schleichenden Prozess, der sich über Jahre hinzieht, da immer Dinge wie freie Wahlen, Justiz oder Pressefreiheit ihnen im Weg standen.
Bisher mussten diese Länder weitaus vorsichtiger vorgehen, doch jetzt, da die EU, die eigentlich gegen derartigen Machtmissbrauch von Staaten einschreiten sollte, selbst mit der Krise und dessen Bekämpfung beschäftigt ist, schaut keiner mehr so genau hin.
Wenn diese Pandemie endlich zu Ende ist, wird zumindest in Ungarn nicht mehr viel von der schon seit Jahren bröckelnden Demokratie übrig sein bzw. wird man dann zwischen einer demokratischen Fassade und einer Diktatur unterscheiden müssen. In Polen ist die Situation zwar noch nicht ganz so schlimm, jedoch ermöglicht sie dort vielen hohen Politikern und vor allem Jarosław Kaczyński Möglichkeiten, von denen sie vor ein paar Wochen nur hätten träumen können.
Wo man hinschaut, ob Brasilien, Türkei oder Venezuela, oder eben Polen und Ungarn, überall wird Demokratie mit Füßen getreten.
Und die neuen Corona Apps, die auch bald in Deutschland integriert werden sollen, muss man auch vorerst kritisch betrachten. Einen datenschutzfreundliche App soll wohl jetzt die Plattform PEPP-PT liefern, welche verspricht, ohne personenbezogene Daten und ohne Standortdaten auszukommen und dabei den Behörden helfen kann, die Kontakte der letzten Tage abzurufen, wenn man selbst zu einem Covid-Fall wird. Davon erhofft man sich eine Entlastung des Gesundheitssystems und damit von Ärzten und Pflegepersonal, die in den Krankenhäusern und Praxen sowieso schon überlastet sind.
Doch Apps wie sie zum Beispiel in China verpflichtend verwendet werden, fragen dich nach deinem Gesundheitszustand akribisch, tracken genau deine Bewegungsdaten der letzten Wochen und schauen, welche Menschen du getroffen hast. Also ein einfacher Weg, um die dortig lebenden Menschen noch genauer zu überwachen, noch mehr über ihr privates Leben herauszufinden und dadurch diese auch besser kontrollieren zu können. Auch das öffentliches Leben hängt zunehmend von den Statistiken der eigenen App ab.
Wenn man beispielsweise in China in einem Park spazieren gehen will oder eine wöchentliche Massage nehmen will, dann ist man dazu verpflichtet das Handy an einem der vielen Kontrollpunkte vorzuhalten und wenn das Handy einen nicht als absolut ungefährdet kennzeichnet, wird man weder im Park spazieren gehen dürfen, noch eine Massage vom Masseur bekommen. Von Bewegungsfreiheit kann also dort kaum noch die Rede sein.
Es ist schwer zu wissen, welcher Weg der richtige ist. Ist es sinnvoll einen wirtschaftlichen Shutdown zu verordnen? In Ländern wie Schweden oder Südkorea, in denen man andere Wege der sozialen Distanz, wie das Tragen eines Mundschutzes eingeschlagen hat und das öffentliche Leben und die Wirtschaft weit weniger eingeschränkt ist, wurde die Zahl der Neuinfektionen bisher scheinbar eingedämmt. Schweden wurde vorausgesagt, dass die Infektionen und Todesfälle sehr hoch sein werden. Bisher liegen diese aber weit unter den Zahlen von Frankreich, Spanien oder Großbritannien, ohne dass in Schweden zum Beispiel Geschäfte oder Schulen geschlossen wurden. Können wir vom schwedischen Weg lernen?
Um diese Krise möglichst schadenfrei zu überstehen, ist ein reger Diskurs von Nöten, nicht nur in Deutschland sondern in Europa als ganzes. Bisher entsteht jedoch der Eindruck, dass konstruktive Ideen nicht ausreichend diskutiert werden. Dabei macht der Pluralismus den Kern unserer Demokratie aus. Auf der anderen Seite sehen wir aber viel Solidarität untereinander, was Mut macht. Es bleibt zu hoffen, dass diese auch in Zeiten von Wirtschaftskrise und möglicherweise Massenarbeitslosigkeit bestehen bleibt.
Dieser Artikel wurde am 18.04.2020 verfasst (Anm. d. Red.)
Text: Justus-Said Schlingensiepen
Illustrationen: Marlene Stahl, Luisa Schmid